Vigdis Hjorth: Bergljots Familie

  Der Elefant im Zimmer

Hjort

23 Jahre nach der Explosion einer familiären Bombe und 15 Jahre, nachdem die Ich-Erzählerin Bergljot den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hat, stirbt der Vater hochbetagt. Nie hat er den Missbrauch Bergljots als Kind zwischen fünf und sieben Jahren eingestanden, den sie erst in einem „entsetzlichen Erkenntnisdurchbruch“ (S. 117) als geschiedene Frau mit drei Kleinkindern begriff. Es folgte eine jahrelange Psychoanalyse, die Konfrontation der Familie mit ihrer Geschichte und deren beharrliches Negieren. Der um ein Jahr ältere Bruder Bård, selbst unter lebenslanger Missachtung durch den Vater leidend, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Abstand gewonnen. Umso überraschender kam für die beiden ältesten Geschwister das Testament drei Jahre vor dem Tod des Vaters, das allen vier Kindern gleiche Erbanteile zusicherte. Als jedoch die Familienhütten auf Hvaler vorab weit unter Marktwert an die mit den Eltern solidarischen jüngeren Schwestern Astrid und Åsa gehen, will Bård diese weitere Ungerechtigkeit nicht akzeptieren, der Streit eskaliert. Plötzlich ist auch Bergljot wieder mittendrin, das nie bewältigte Trauma kehrt mit Macht zurück. Dabei ist die Ignoranz Bergljots tiefste Verletzung:

Der Elefant im Zimmer wurde nicht erwähnt, der Grund, warum ich aufgehört hatte, Hvaler und den Bråtevei zu besuchen, und dann war es so, als gäbe es diesen Grund nicht, als gäbe es meine Geschichte nicht. (S. 97)

© B. Busch

Ein Skandalbuch
Die 1959 geborene, in Norwegen sehr bekannte Autorin Vigdis Hjorth bezeichnet das Buch, das in ihrem Heimatland für heftige Debatten, in ihrer Familie für einen Eklat sorgte, trotz der autobiografischen Übereinstimmungen als Roman, ohne detailliert Stellung zu beziehen. 2016 erhielt sie dafür den von mir sehr geschätzten Preis der norwegischen Buchhändler sowie den Kritikerpreis.

Ob es dabei wohl den Jurys genauso erging wie mir, atemlos bezüglich Thematik und Offenheit und trotzdem in einem emotionalen Spagat? Einerseits bewundere ich die rationale, strukturierte Analyse der Ich-Erzählerin bezüglich der eigenen Situation genauso wie hinsichtlich der Beweggründe und Absichten der einzelnen Familienmitglieder. So ist die überraschende gleichmäßige Berücksichtigung aller vier Kinder im Testament keineswegs Wiedergutmachung oder gar Schuldeingeständnis, sondern ein weiterer Schritt der Negierung des Konflikts und ein Versuch, „sich unser Schweigen und unsere Anwesenheit zu erkaufen“ (S. 210). Ausführlich beschäftigt sich Bergljot mit den beständigen Bemühungen Astrids und der Mutter um Normalität, was sie mehr belastet als das Schweigen und die Ablehnung durch den Vater und Åsa. Andererseits war mir immer bewusst, dass Bergljot mich mit ihrer Darstellung auf ihre Seite ziehen möchte und mir Gegenpositionen nur durch ihren Filter präsentiert. Zwar klingen die Schilderungen plausibel und werden vielfach durch Briefe, Mails, SMS und Gespräche mit Familienangehörigen und Freunden untermauert, doch blieb ein kleiner Restzweifel an der Vertrauenswürdigkeit der stark dem Alkohol zusprechenden, in einer Gedankenspirale feststeckenden Protagonistin. Leider ist der „Gegenroman“ von Vigdis‘ Schwester Helga Hjorth unter dem Titel Fri vilje, in dem die Juristin den Inzest abstreitet, nicht auf Deutsch erschienen.

Trotz des unbestreitbaren Sogs von Bergljots Familie, das auch abseits der Missbrauchsthematik äußerst interessante, gekonnt literarisch aufbereitete Einblicke in Familiendynamiken und die Wahrung des äußeren Scheins mit allen Mitteln gewährt – ein wenig Erschrecken über diese Art der „Virkelighetslitteratur“ saß mir beim Lesen immer im Nacken.

Vigdis Hjorth: Bergljots Familie. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Osburg 2017
www.osburg-verlag.de

 

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2003
2014
2015
2018

 

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